Eine lustige Geschichte von Paul Bliß
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 16.03.1902,
in: „Gablonzer Tagblatt” vom 23.07.1902,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 04.02.1902,
in: „Westungarischer Grenzbote” vom 11.11.1911, (hier: „Albert Bräunlichs Dusel”),
in: „Gablonzer Tagblatt” vom 19.01.1912, (hier: „Albert Bräunlichs Dusel”),
in: „Czernowitzer Tagblatt” vom 11.11.1911, (hier: „Albert Bräunlichs Dusel”),
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 01.02.1902,
in: „Badische Presse” vom 25.2.1902,
in: „Nebraska Staats-Anzeiger und Herold” vom 16.09.1904 (hier: „Doch zum Ziel”),
in: „Leitmeritzer Zeitung”, Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 03.06.1916 (hier: Ein glücklicher Zufall),
in: „Niederösterreichische Volks- und Vereinszeitung”, Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 03.06.1916 (hier: Ein glücklicher Zufall),
in: „Österreichische Land-Zeitung”, Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 06.06.1916 (hier: Ein glücklicher Zufall).
Wieder einmal, wie so oft schon, war Herr Albert Bräunlich in arger Geldverlegenheit. Erregt lief er hin und her, führ sich mit der Hand durch das lockige braune Haar und zermarterte sich das Hirn, wie er's nur ermöglichen sollte, seinen vielen und dringenden Verpflichtungen gerecht zu werden.
Endlich warf er sich mißmuthig auf das alte Sopha. Er wußte keinen Rath, wie er diesmal sich Hilfe und Beistand schaffen sollte. Und nun lag er verärgert und verbittert da und haderte mit dem Geschick, das ihm so bös mitspielte.
Plötzlich griff er nach einem alten Buch, das neben dem Sopha an der Erde lag. Es war ein Band aus der Leihbibliothek, ein vergessener Roman von Luise Mühlbach, den ihm seine Wirthin aus der Buchhandlung geholt hatte; in diesem Buch hatte er vorher ein paar Seiten gelesen, als ihm die Sache aber zu langweilig wurde, hatte er sich geärgert, daß er sich dies thörichte Buch hatte von der Wirthin aufschwatzen lassen, und dann war der Band in die Ecke geflogen. Nun hob er ihn auf, um ihn zurückzuschicken.
Und eben, als er den vergilbten und verstaubten Band aus der Hand legen wollte, bemerkte er, daß aus der Mitte des Buches ein Zettelchen herauslugte; halb mechanisch, halb neugierig zog er das kleine Papier hervor und las zu seinem Erstaunen:
„Ich bin ein Optimist. Ich will meine Hoffnung auf einen glücklichen Zufall setzen. Vielleicht findet ein junger Mann diesen Zettel, und vielleicht hat dieser junge Mann den Muth, mich zu befreien. Ich lebe und leide unter der Tyrannei einer Tante. Ich möchte gar zu gern heirathen, aber ich lerne fast gar keine Männer kennen, weil die Tante mich mit Argusaugen bewacht. Ich bin eine „gute Partie”, und ich glaube wohl, daß ich einen Mann recht glücklich machen könnte. Wenn sich also ein Muthiger findet, so möge er nur vertrauensvoll nach der Marienstraße No. 3 kommen und dort im Parterre nach Fräulein Lydia Ebersbach fragen; bitte aber nur in der Zeit von 2 bis 3 Uhr, weil dann die Tante schläft. Ich hoffe also.”
Als Herr Albert Bräunlich diese Zeilen las, mußte er zunächst, trotz seiner grämlichen Stimmung, lächeln über den Ulk, denn etwas Anderes konnte es ja doch nicht sein; dann aber, als er den Inhalt noch einmal durchflog, fesselte ihn eine Naivität, die ihm echt zu sein schien, und da durchzuckte ihn plötzlich der Gedanke: Und wenn es nun kein Ulk, sondern ernst gemeint wäre!
Und nun sprang er wie elektrisirt auf und eilte an den Schreibtisch, wo in einem Seitenfach das dicke Adreßbuch lag.
Mit zitternden Fingern blätterte er die Seiten um, bis er sein Ziel erreicht hatte — und siehe, da stand wirklich schwarz auf Weiß zu lesen: „Lydia Ebersbach, Marienstraße 3, part.”
Nachdenklich sank er in seinen Sessel zurück.
Also es war kein Ulk!
Was nun? was nun? — —
Alles in ihm war in Aufruhr; dies seltsame Ereigniß erregte ihn derart, daß er seine kritische Lage vergaß und nur noch an die Schreiberin dieser Zeilen dachte.
Selbstverständlich mu0te er hingehen!
Sehr umständlich und gewählt machte er Toilette, denn er wußte aus Erfahrung, daß oftmals der erste Anblick maßgebend ist.
Um zwei Uhr trat er den Weg an, schüchtern wie ein Sekundaner, der sein erstes Stelldichein hat.
Als er endlich die Klingel zog, zitterte seine Hand so stark, daß er alle Kraft zusammen nehmen mußte, um Herr der Situation zu bleiben.
Ein älteres Dienstmädchen öffnete und fragte nach seinen Wünschen.
„Ich möchte Fräulein Ebersbach sprechen, bitte, hier ist meine Karte!” sagte er so ruhig, als ihm nur möglich war.
„Das junge oder das alte Fräulein?” fragte die Magd, indem sie ihn ein wenig erstaunt musterte.
Kurz entschlossen antwortete er: „Fräulein Lydia Ebersbach, bitte.”
Jetzt lächelte die Magd ein wenig: „So heißen beide Damen, die Tante und die Nichte.”
„Also bitte, melden Sie mich dem jungen Fräulein und sagen Sie, bitte, ich käme wegen des Mühlbach'schen Romans.”
Er mußte warten. Indessen sah er sich im Vorraum um und bekam den Eindruck, daß die Wohnung einen gut bürgerlichen Geschmack und solide Wohlhabenheit verrieth.
Dann kam die Magd zurück und sagte: „Das Fräulein läßt bitten,” — wobei sie ihn in den Salon führte.
Als er eintrat und sich umsehen wollte, kam durch eine andere Thür ein junges Mädchen, das ihn erstaunt musterte, aber mit wohlerzogener Manier zum Sitzen einlud und fragte:
„Darf ich erfahren, was Sie zu uns führt?”
Er sah sie an mit unsicherem Blick und mit unverhehlter Bewunderung, denn er fand, daß sie nicht nur jung und hübsch war, sondern daß sie auch einen Zauber echt weiblicher Anmuth ausstrahlte, der ihm das Herz pochen ließ.
Endlich begann er: „Ich habe den Mühlbach'schen Roman „Aphra Bahn” gelesen, und ich bin dem Zufall dankbar, der mir dies alte Buch in die Hand geführt hat.”
Sie nickte nur lächelnd und sagte nichts.
Etwas unsicher begann er wieder: „Sie sehen also, gnädiges Fräulein, daß Sie Ihr Optimismus nicht irre geführt hat, — es geschehen auch heute noch Wunder, — man muß nur daran glauben!”
Darauf erwiderte sie lächelnd: „Verzeihen Sie, mein Herr, aber ich verstehe nicht, auf was Sie da anspielen.”
Jetzt bekam er Muth. Mit einer eleganten und sicheren Handbewegung sagte er: „ich bin der Muthige, gnädiges Fräulein! Und wenn ich Ihnen nicht mißfalle, so —”weiter kam er aber nicht.
Denn sie erhob sich und antwortete artig, aber bestimmt: „Ich glaube, mein Herr, daß hier ein kleines Mißverständniß vorliegt.”
„Aber nein, meine Gnädigste!” betheuerte er, „ich habe Ihren Zettel gefunden!”
„Welchen Zettel? Ich weiß von keinem Zettel!”
„Was!” — Einen Augenblick sah er sie prüfend an, dann entgegnete er, heiter zwar, aber doch mit einiger Energie: „Sehen Sie, gnädiges Fräulein, das war nun nicht nett! Wenn man schon mal so etwas thut, muß man auch die Konsequenzen seiner Handlung tragen! — Oder aber, wenn ich Ihnen dann absolut nicht gefalle, dann gestehen Sie es mir wenigstens offen ein, — dann nehme ich meinen Hut und empfehle mich sofort wieder!”
Lächelnd antwortete sie: „Ich wiederhole Ihnen, mein Herr, hier liegt ein Mißverständniß vor. Ich weiß wirklich von keinem Zettel!”
Nun wurde er mit einem Male kleinlaut: „Also hat sich Jemand anders mit Ihrem Namen einen sehr schlechten Scherz erlaubt! — Hier bitte, dies Papier fand ich heute in dem alten Roman!” — wobei er ihr das Zettelchen überreichte.
Höchst erstaunt las sie, las wieder, lächelte dann und sagte endlich: „Das ist aber wirklich sehr sonderbar!” — Dann klingelte sie, und als gleich darauf die Magd erschien, gab sie ihr leise einen Auftrag.
Mit einigem Befremden hatte er ihr ganzes Gebahren mit angesehen, indessen wagte er nicht, zu fragen, sondern wollte warten, bis sich das Räthsel lösen würde.
Schon in der nächsten Minute wurde die Thür geöffnet und eine alte Dame trat ein.
„Liebe Tante,” begann das Fräulein, nachdem sie sie vorgestellt hatte, „dieser Herr hat heute diesen Zettel in einem alten Roman gefunden; wenn ich nicht irre, hast Du das geschrieben, nicht wahr?”
Herrn Albert Bräunlich wurde es plötzlich schwarz vor den Augen, — das ganze Gebäude seiner kühnen Hoffnungen sank in ein Nichts zusammen.
Inzwischen hatte die alte Dame ihre Brille aufgesetzt und las nun den Inhalt des kleinen Papiers, dann lächelte sie mit leiser Wehmut und sagte mit ihrer milden Stimme:
„Ja, ja, das habe ich einst geschrieben, aber vor vierzig Jahren. Jetzt dürfte es wohl zu spät sein, mich noch zu entführen. Sie hätten das Papier früher finden müssen, junger Herr! Aber die alte Tante, die mich dereinst gefangen hier festhielt, ist längst begraben, und, wie Sie sehen, bin ich nun selber eine alte Tante geworden!”
Schmeichelnd kam die Nichte heran zu ihr, umfaßte sie und rief: „Aber Du bist mir keine Tyrannin geworden, Tantchen!”
Herr Albert Bräunlich kam sich jetzt hier sehr überflüssig vor; er nahm seinen Hut, bat vielmals um Entschuldigung und wollte sich empfehlen.
Aber Tantchen ließ ihn nicht fort; er wurde zu einer Tasse Kaffee geladen.
Und er blieb.
Und als man erst beim Kaffee saß, wurde die Stimmung so traulich und gemüthlich, daß Herr Albert Bräunlich auch noch dablieb, als längst der Kaffee ausgetrunken war.
Tantchen erzählte von ihrer Jugend — wie sie einst für die Romane der Mühlbach geschwärmt hatte, und wie sie in schwärmerischer Hoffnung dereinst sehnend auf den Ritter gewartet hatte.
Und während Tantchen so flott erzählte, beobachtete Herr Albert Bräunlich unausgesetzt das junge Fräulein, an dem er immer neue Reize entdeckte, und dem er schließlich auch ganz kühn und flott den Hof machte.
Als er sich endlich empfahl, lud Tantchen ihn ein, bald wieder zu kommen, was er denn auch sofort hocherfreut versprach; und als er fort war, fragte die alte Dame ihre Nichte, wie ihr der junge Mann gefallen habe, worauf die Kleine erröthend entgegnete: „Oh, ganz nett.”
Dazu lächelte Tantchen stillvergnügt; bei sich aber dachte sie: vielleicht blüht der Kleinen das Glück, auf das ich vergebens hoffte!
Und richtig! Herr Albert Bräunlich kam sehr bald wieder, und diesmal blieb er noch länger, weil er es wieder riesig gemüthlich fand. Und dann wollte es der Zufall, daß sich die jungen Leute alle Tage trafen; und daß Herr Bräunlich dann stets das Fräulein nach Hause begleitete, war doch ganz selbstverständlich; ebenso selbstverständlich war es dann auch, daß Tantchen bat, er möge noch ein wenig dableiben, was der galante junge Mann natürlich nie abschlagen durfte.
Und so kam es, daß man ihn nach und nach wie einen alten Freund und wie zur Familie gehörig betrachtete.
Eines Tages aber, als man wieder beim Kaffee zusammen saß, machte Tantchen scheinbar ein Nickerchen, das heißt, sie schloß scheinbar wohl die Augen, schlief aber nicht, — und da sah sie dann, wie die beiden jungen Leute, die sich unbeachtet glaubten, dicht aneinander rückten und sich küßten.
Da lächelte die alte Dame gütig, machte die Augen vollends auf und sagte: „Ich freue mich, Kinder, daß nun mein Zettel von damals doch einen guten Zweck gehabt hat!” — Und dabei legte sie die Hände der jungen Leute in einander und drückte ihrer Nichte einen Kuß auf die Stirn.
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